„Kein Programm ist so eng an den Schüler*innen wie das NRW-Talentscouting“

Die soziale Teilung der Stadt Essen zwischen Nord und Süd ist an der Gesamtschule Essen Nord exemplarisch. Seit 26 Jahren ist Wolfgang Erdmann hier Schulleiter. Das Schulgebäude selbst ist in keinem guten Zustand. Es fehlt an Lehrer*innen und an Sozialpädagog*innen. Auf die zu besetzenden Positionen gingen keine Bewerbungen ein. Doch die Schule hat etwas – einen Charakter, eine Haltung, die jeder Schülerin und jedem Schüler Talent beimisst. Wertschätzung ist ein durchgehendes Element der Schulgemeinschaft. Deshalb war die „Nord“ auf der Stelle dabei, als 2011 der erste Talentscout an die Tür klopfte. Im Gespräch mit Schulleiter Wolfgang Erdmann über tagtägliche Herausforderungen, Motivation und das NRW-Talentscouting.

Ein Interview mit Wolfgang Erdmann, Schulleiter der Gesamtschule Essen Nord

Herr Erdmann, stellen Sie uns doch bitte einmal Ihre Schule vor.

Derzeit wird die Gesamtschule Essen Nord von über 900 Schüler*innen besucht. Wir haben hier im Stadtteil Vogelheim sehr viele Aufgaben und eine wahnsinnige Verantwortung gegenüber unserer Schülerschaft, die aus Bevölkerungsschichten kommt, die nicht so gute Voraussetzungen haben wie andere. Fast dreiviertel der Kinder haben eine Zuwanderungsgeschichte, sind im Spracherwerb oder benötigt zusätzliche Deutschförderung – d. h. speziell auch in Prüfungssituationen haben diese Schüler*innen ein doppeltes Handicap. Der Anteil der Kinder aus Haushalten, in denen kein Elternteil berufstätig ist, ist sehr hoch, Bildungsvorbilder fehlen überwiegend. Die Umsetzung der Inklusion mit einem dünnen Fachpersonalspiegel kommt hinzu. Um eine gewisse Fairness der Schülerschaft gegenüber zu generieren, bräuchten wir einen anderen Personalschlüssel und kleinere Klassen. Klassen mit mehr als 25 Schüler*innen sind zu groß. Kleinere Klassen bedeuten mehr Schulraum, doch Schulplatz ist in Essen besonders knapp.

Wie war es, als 2011 erstmals ein Talentscout an die Tür klopfte und vorschlug, an der Gesamtschule Essen Nord Talente zu finden?

Das NRW-Talentscouting hat bei uns offene Türen eingerannt. Unser Kollegium ist der einhelligen Meinung, dass unsere Schüler*innen keineswegs weniger Intellekt haben als Schüler*innen im Essener Süden, sie brauchen nur mehr Unterstützung. Wir müssen dafür sorgen, dass weniger privilegierte Jugendliche die gleichen Chancen haben, weil wir ansonsten langfristig ein gesellschaftliches Ungleichgewicht produzieren. Das dulden wir nicht, da es den sozialen Unfrieden weiter verschärfen wird. Alle unsere Schüler*innen haben einen Anspruch auf vernünftige Förderung und sollen die gleichen Chancen für ihren persönlichen Lebensweg mit auf den Weg bekommen wie Kinder aus privilegierteren Stadteilen. Deswegen vernetzen wir uns bewusst, um für unsere Schüler*innen etwas Gutes zu bewirken.

Wieso ist das NRW-Talentscouting an der Gesamtschule Essen Nord richtig?

Unsere Schüler*innen trauen sich wenig zu, sind häufig misserfolgsorientiert und brauchen sehr viel Zuspruch. Sie haben oft ein geringes Selbstkonzept, weil sie sich als eine Personengruppe wahrnehmen, die randständig ist. Menschen, die Schüler*innen Mut zusprechen, an den Einzelnen glauben und ihn auch langfristig begleiten, sind außerordentlich wichtig. Das ist der Punkt, an dem das Talentscouting ansetzt und das stärkt unsere Schüler*innen ungemein – auch in ihrer eigenen Selbstwahrnehmung. Wir Lehrer*innen vermitteln nicht nur Inhalte, sondern versuchen auch Vorbilder zu sein, zu motivieren und jedem Kind die Wertschätzung zu geben, die es von zuhause aus nicht erfährt – das ist die Stärke unserer Schule. Doch Schüler*innen werten Aussagen von uns und den Talentscouts unterschiedlich. Es hat für sie einen anderen Stellenwert, wenn jemand von außen kommt, der sie unterstützt. Die Talentscouts sind auch nicht in der Situation, schulische Leistungen durch Noten zu bewerten und sie sind auch aufgrund ihres Alters viel näher an der Lebenswirklichkeit der jungen Leute und werden gerade deshalb völlig akzeptiert. Ich selbst bin mit meinen 60 Jahren ja „oldschool“. An unserer Schule setzen wir bereits alle Maßnahmen, die durch "Kein Abschluss ohne Anschluss" (KAoA) vorgeschrieben sind, um. Jedoch ist kein anderes Programm so eng an Schüler*innen wie das Talentscouting. Ohne diese externe Unterstützung würden wir blöd dastehen. Wir möchten das Programm auf jeden Fall fortgeführt wissen.

Wie nehmen Sie die Schüler*innen wahr, die durch einen Talentscout begleitet werden?

Fast die gesamte Oberstufe wird durch unseren Talentscout Laura Estner (Westfälische Hochschule) begleitet. Ich habe den Eindruck, dass die Schüler*innen durch die Gespräche sehr viel aufgeschlossener werden und persönliche Perspektiven entwickeln. Bei einigen habe ich durchaus auch eine Steigerung ihres Selbstbewusstseins wahrnehmen können und viele von ihnen wirken vergleichsweise erwachsener, wie z. B. unser Schülersprecher. So wie er seit dem Talentscouting Pläne generiert, sich in die Schulgemeinschaft einbringt, die Arbeit der Schülervertretung voranbringt und auch dem Kollegium gegenüber auftritt, ist beachtlich. Ich bin sehr froh, dass er die Begleitung durch einen Talentscout erfahren darf – das hat ihn persönlich weiter gebracht.

In der Oberstufe unterrichten Sie Mathematik. Was motiviert Sie als Lehrer?

Als ich hier vor 26 Jahren gestartet bin, hat mich die Situation der Menschen in Vogelheim berührt. Ich komme aus einem gutbürgerlichen Haushalt in Bochum und bin behütet aufgewachsen. Ich wusste auf Anhieb, dass ich mich für die Schüler*innen einsetzen will. Wenn man ohne Perspektive aufwächst, was macht man dann? Deswegen ist Schule speziell in Bezirken wie unserem wichtig. Deswegen sind auch die Talentscouts wichtig, die sagen, du kannst etwas – das hören viele Kinder zuhause nicht. Wir haben in den Essener Nordbezirken durchaus Segregation, die ich mit Sorge wahrnehme, doch an vielen Stellen auch große Integrationsleistungen und Unterstützungsangebote, vor denen ich den Hut ziehe. Was mich persönlich motiviert ist eine ganz simple Sache: Ich gehe in der großen Pause in die Teestube, und wenn dann Schüler*innen zu mir kommen und sagen »Guten Morgen, Herr Erdmann. Wie geht es ihnen?«, dann weiß ich, dass ich hier richtig bin. Die Wertschätzung, die ich von den Schüler*innen zurückbekomme, füllt meinen Akku.

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