Hanna Rauschen-Hibbe ist Lehrerin am Genoveva-Gymnasium in Köln-Mülheim. Als sie in einer Wochenzeitung über die individuelle Begleitung und Beratung von Schüler*innen durch Talentscouts las, dachte sie, das sei auch etwas für ihre Schüler*innen. Als Klassenlehrerin möchte sie ihren Schüler*innen gerne noch mehr bieten, als ihre berufliche Rolle zulässt. Umgehend überzeugte sie ihr Kollegium von einer Kooperation mit dem landesweiten NRW-Talentscouting und nahm auch selbst bereits Fortbildungsangebote des NRW-Zentrums für Talentförderung wahr. Seit gut drei Jahren koordiniert sie das Talentscouting an ihrer Schule in enger Zusammenarbeit mit Talentscout Serap Yilmaz von der Universität zu Köln. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie sorgt laut Frau Rauschen-Hibbe die beständige Begleitung durch das Talentscouting bei ihren Schüler*innen für Orientierung, ein Netzwerk und Reflektion.
Das Genoveva-Gymnasium in Köln-Mühlheim ist eine lebendige Schule, weil hier viele unterschiedliche Menschen zusammentreffen. Unsere Schule blickt auf eine lange Geschichte der besonderen Förderung sozial benachteiligter Schüler*innen zurück. Von unseren 730 Schüler*innen haben über 90 Prozent einen Migrationshintergrund, 60 Prozent unserer Schüler*innen haben Anspruch auf soziale Transferleistungen und 50 Schüler*innen sind Geflüchtete. 2011 erhielt die Schule als einziges Gymnasium in NRW den deutschen Schulpreis. Seitdem sind wir Teil des Netzwerks der deutschen Schulakademie – und es hat sich viel getan. Wir wurden Ganztagsschule inklusive eines neuen Anbaus, der 2019 eingeweiht werden konnte. Ein mittlerweile abgeschlossenes Austauschprojekt mit der Bal Bharati Public School in Neu-Delhi, unterstützt von der Robert Bosch Stiftung, hat viele wertvolle Erfahrungen möglich gemacht. Wir wurden Teil des Netzwerks „Schule ohne Rassismus mit Courage“ und die Entwicklung unseres Schulprogramms „STaGe loves MINT“ wird kräftig vorangetrieben, dabei handelt es sich um ein für Gymnasien neues Schulprogramm, welches die Gleichwertigkeit von naturwissenschaftlichen und künstlerischen Fächern umsetzt. Besonders ist aus meiner Sicht, dass am Geno der Mensch mit seinen Fähigkeiten im Mittelpunkt steht, immer im Bezug zu seinem Lebenskontext.
Durch die Schulschließung hat sich mein Alltag, der sich gewöhnlich an einem Stundenplan orientiert, deutlich geändert. Als erstes haben wir als Kollegium direkt versucht in den Austausch mit unseren Schüler*innen zu kommen. Ich habe dafür die Schüler*innen, deren Klassenlehrerin ich bin und auch die Kurse in den Oberstufen, in denen ich unterrichte, zunächst einmal angerufen. Einige Schüler*innen nehmen für sich das Beste aus der Situation mit und sehen auch die Chancen und Freiräume, die sich bieten. Kinder, bei denen bereits schwierige Rahmenbedingungen daheim herrschen, geht es oft nicht gut. Ich merke, dass manchen die Motivation fehlt, Dinge in Angriff zu nehmen. Wir haben über die Situation gesprochen und nach individuellen Lösungen gesucht. Nicht alle Probleme lassen sich sofort lösen. Wenn Jugendliche keinen Computer oder Laptop besitzen, sind sie fatalerweise beinahe automatisch abgehängt. Fast alle Schüler*innen besitzen zwar ein Handy, damit lassen sich Dokumente lesen, aber nicht vernünftig bearbeiten. Bisher wurde immer vorausgesetzt, dass Endgeräte bei jedem Schüler vorhanden sind. Da dies bei unserer Schule mit Standorttyp 5 nicht der Fall ist, beginnt jetzt der Schritt solche Daten anonymisiert zu erheben. Nur so kann auch politisch Druck entstehen, jedem den Zugang zu einem Endgerät zu gewährleisten. Da wir nicht warten können, bis sich politisch etwas bewegt, hat sich an unserer Schule ein Team gefunden, das versucht über Spenden Endgeräte zu organisieren. Der Bund hat eine finanzielle Unterstützung für Computer für Schüler*innen aus benachteiligten Familien zugesagt. Doch das Problem ist, dass dieser Vorgang zu lange dauert und die Summe von 150 Euro pro Schüler*in nicht ausreichend ist. Wir brauchen dringend eine schnelle Übergangslösung bis zu den Sommerferien, wie z. B. ein Ausleihsystem von Geräten, daran wird gerade mit Hochdruck in einem Team von Lehrer*innen und Schüler*innen gearbeitet. Nicht jeder muss ein neues Endgerät bekommen, sondern wir benötigen eine Lösung, die ermöglicht, dass jeder zuhause uneingeschränkt arbeiten kann. Dies lässt sich aber nicht nur mit einer einmaligen finanziellen Unterstützung ändern. Gerade jetzt zeigt sich, die Flexibilität unserer Schule mit herausfordernden Situationen umzugehen und die Möglichkeiten zu improvisieren. Gemeinsam mit engagierten Kolleg*innen und unserer Schulleitung haben wir es geschafft, binnen zwei Wochen eine digitale Form des Arbeitens umzusetzen. Dies wurde zuvor strukturell auf bildungspolitischer Ebene versäumt.
Das Talentscouting wird aktuell als „Telescouting" am Genoveva-Gymnasium sehr gut von unseren Talenten angenommen. Unser Talentscout Serap Yilmaz berät unsere Talente per Telefon und nutzt wie gewohnt über die Statusübersicht bei WhatsApp die niederschwellige Möglichkeit Angebote mit vielen hilfreichen Links mit Schüler*innen zu teilen. Das kommt gut und direkt bei Talenten an – es gibt keine Zwischenstationen, sodass Informationen nicht verloren gehen. Die Schüler*innen können sich so die Dinge raussuchen, die sie brauchen und sind nicht verpflichtet an allen Angeboten teilzunehmen. Der aufsuchende Ansatz des Talentscoutings wird also auch hier umgesetzt. Besonders erwähnenswert finde ich, dass die Talentscouts immer von den Bedarfen unserer Schüler*innen ausgehen. Ich verstehe das Programm als ein Konzept, dass an unserer Schule, selbst in sehr herausfordernden Zeiten funktioniert. Auch schon vor der Pandemie haben sich Schüler*innen über die Website der Schule für einen Termin bei unserem Talentscout eingetragen. Dadurch das diese Struktur bereits etabliert war, hat sich für die Schüler*innen nicht viel verändert. Der einzige Unterschied liegt darin, dass das Scouting aktuell nicht mehr vor Ort durchgeführt wird. Alle Termine sind wie gehabt sehr schnell ausgebucht. Und auch darüber hinaus ist Frau Yilmaz in stetigem Kontakt mit den Jugendlichen und wird als großer Gewinn wahrgenommen.
Die Gespräche mit unserem Talentscout bieten unseren Schüler*innen vor allem Orientierung, ein Netzwerk und Reflektion. Die Schüler*innen finden in der individuellen Begleitung heraus, was sie wollen und können und was sie damit machen möchten. Ich habe das Gefühl, dass unsere Schüler*innen eine wirkliche Leidenschaft für das Talentscouting entwickelt haben und sich einzelne Schüler*innen dadurch auch noch mehr unserer Schule, auch über die Schulzeit hinaus, verbunden fühlen. Ich verstehe das als eine große Ressource für die Zukunft unserer Schule. Motiviert und begleitet durch das Talentscouting ist z. B. eine unserer Schülerinnen in die Begabtenförderung der Studienstiftung des deutschen Volkes aufgenommen worden. Ohne das Talentscouting wäre das wahrscheinlich nicht passiert.Diese junge Frau kommt gerne zu Tagen der offenen Tür zurück an das Genoveva-Gymnasium, um anderen von ihren Erfahrungen zu berichten und den Ort zu besuchen, der ihr ermöglicht hat diesen Weg einzuschlagen. Dies kann andere wiederum inspirieren und anspornen.
Aus meiner Rolle als Koordinatorin des Talentscoutings am Genoveva-Gymnasium Köln, wünsche ich mir, dass das Talentscouting künftig auch für die Sekundarstufe I geöffnet wird. Es gibt bereits Angebote wie die Potenzialanalyse und Berufsfelderkundungstage, jedoch besteht nach wie vor eine Leerstelle hinsichtlich individueller Talentförderung. Systemisch wünsche ich mir, dass die Verzahnung von Ganztag und die Arbeit in multiprofessionellen Teams aus Talentscouts, Schulsozialarbeiter*innen und Lehrer*innen eine noch viel wichtigere Rolle spielt – speziell auf politischer Ebene. Als Lehrerin und Teil einer engagierten lebendigen Schulgemeinschaft sehe ich unser gemeinsames Ziel darin, dass sich unsere Schüler*innen ihrer Gestaltungskraft bewusst werden. Unsere Gesellschaft braucht jeden Einzelnen. Wir wollen sie darin bestärken, dass sie sich neugierig und offen auf den Weg machen auch unbequeme Fragen zu stellen. Damit das gelingt, braucht es aber Menschen, die sie anleiten zu suchen, wer sie sein wollen, damit sie die Freiräume nutzen, die schon da sind, um sich entwickeln zu können und handlungsfähig zu sein.
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