„Jedes Talent muss gewonnen werden!“

Ein Interview mit Hilke Birnstiel und Marcus Kottmann, Leitung des NRW-Zentrums für Talentförderung

Talentscouting wirkt und schafft mehr Chancengerechtigkeit. Das wurde jetzt durch eine langfristig angelegte wissenschaftliche Begleitstudie bestätigt. Wie sind diese Ergebnisse aus eurer Sicht einzuordnen?

Hilke Birnstiel: Wir arbeiten in der Talentförderung seit über zehn Jahren eng mit vielen tausenden engagierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen, die aufgrund erschwerter Rahmenbedingungen ihre Potenziale oftmals nicht entfalten und berufliche Träume nicht verwirklichen können. Dass diese Ansätze wirken, haben uns die Rückmeldungen von Talenten und von den inzwischen fast 400 Kooperationsschulen von Beginn an verdeutlicht. Diese Rückmeldungen waren und sind Grund genug, unsere Ansätze der Talentförderung weiter auszubauen, zumal es noch viele Talente in unserem Land gibt, für die es sich zu engagieren lohnt. Dass nun auch die Wissenschaft mit ihren Methoden die Wirksamkeit des Talentscoutings belegt, nehmen wir aber natürlich als Bestätigung für unsere Arbeit gerne an.

Marcus Kottmann: Mit dem NRW-Talentscouting wurde offenbar erstmals in Deutschland ein langfristig angelegtes Beratungsprogramm umfangreich mit wissenschaftlichen Standards auf seine Wirkungen untersucht. Das hat uns schon etwas überrascht, denn es gibt eine Reihe von großformatig angelegten Beratungsprogrammen in Schulen und Hochschulen. Natürlich liegt darin jetzt auch eine Chance, mehr über die Wirkungen von bestehenden Beratungsansätzen gerade im Kontext von Bildungsgerechtigkeit zu erfahren. Auch das macht die Ergebnisse so spannend.

Die Studie beschreibt: Wer leistungsstark ist und ohne akademische Tradition aufwächst, nimmt mit Talentscouting häufiger ein Studium auf, während sich Abiturient*innen mit etwas niedrigeren Leistungsniveaus aus akademischem Elternhaus öfter für eine Berufsausbildung entscheiden. Wirkt Talentscouting also bei allen Schüler*innen?

MK: Die genannten Gruppen von Jugendlichen umfassen ja längst nicht alle Schüler*innen, insofern wäre das sicher zu weit gefasst. Aber wir haben immer betont, dass Talentscouting nicht nur für Schüler*innen aus Elternhäusern ohne akademische Tradition ein sinnvolles Angebot sein kann, wenngleich das Programm hier seinen Schwerpunkt hat. Auch Jugendliche aus einem akademischen Elternhaus brauchen Support, wenn die Studien- und Berufsorientierung mit Blick auf die eigenen individuellen Fähigkeiten und Neigungen schwerfällt. Etwa 25 Prozent der von uns begleiteten Talente kommen landesweit aus akademischen Elternhäusern, das entspricht auch in etwa der Verteilung in der Gesellschaft. Dass hier auch Perspektiven für diese Jugendlichen im Bereich der beruflichen Ausbildung liegen können, ist bei vielen hundert verschiedenen Ausbildungsberufen naheliegend. Gerade in der Debatte um Potenziale für die Berufsausbildung werden Jugendliche aus Akademikerfamilien aber bislang viel zu wenig beachtet. Es ist zu hoffen, dass sich dies durch die vorliegenden Befunde ändert. Klar ist, Talentscouting kann Beiträge leisten, um Talente sowohl für die Berufsausbildung als auch ein Studium zu mobilisieren.

Was bedeuten die Ergebnisse der Studie für die weitere Arbeit der NRW-Talentförderung?

MK: Was uns als NRW-Zentrum für Talentförderung umtreibt, sind die dramatisch ungleichen Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen unabhängig von erkennbaren Potenzialen, hohem Engagement und erbrachten Leistungen. Chancengerechtigkeit zu verbessern war in Deutschland schon vor der Pandemie eine riesige Herausforderung, bei der wir als Gesellschaft trotz einiger Erfolge keine grundlegend befriedigende Leistungsbilanz erzielen konnten. Nun geht die Chancenschere durch die Pandemie sogar noch weiter auseinander. Gleichzeitig wird immer klarer, dass die Zeiten voller Nachwuchsstrecken – egal ob in der Berufsausbildung oder im Studium – in immer mehr Regionen vorbei sind. Wenn wir unter diesen Rahmenbedingungen neue Perspektiven für die junge Generation, aber auch für Wirtschaft und Gesellschaft erschließen wollen, kann Talentförderung einen wichtigen Lösungsbeitrag leisten. Es könnte durchaus sein, dass die Studienergebnisse den Blick auf diesen Lösungsbeitrag gerade auch in anderen Bundesländern schärfen, zumindest deuten dies erste Nachfragen an.

HB: Talentscouting funktioniert in Nordrhein-Westfalen in Ballungszentren genauso wie im eher ländlich geprägten Raum. Insofern ist es nachvollziehbar, dass sich andere Regionen bzw. Bundesländer für diesen Ansatz interessieren, das wird gerade noch einmal verstärkt durch die öffentliche Aufmerksamkeit für die Studienergebnisse. Wir weisen dann aber auch immer darauf hin, dass wir Geschwindigkeit und Breitenwirksamkeit in NRW ganz wesentlich durch die enge Zusammenarbeit mit Lehrkräften und anderen Akteuren im Bildungssystem gewinnen, die wir in verschiedenen Weiterbildungsformaten mit Grundlagen und Instrumenten der Talentförderung vertraut machen und untereinander vernetzen. Talentförderung fängt im Kleinen an. Es sind nicht die großen Ungleichheiten oder Systeme, die wir unmittelbar ändern können, sondern viele kleine Dinge, die jede/r im Berufsalltag berücksichtigen kann, die Chancen ermöglichen und Bildungsbiografien nachhaltig prägen – und die in ihrer Gesamtheit dann durchaus systemverändernd wirken.